Big brother – small brother? Russland und die Ukraine – die komplizierte Liaison

Ein wenig kommt man sich vor wie zu den Zeiten, die als überwunden geglaubt wurden, nämlich wie im kalten Krieg. Sieht man die Nachrichten im deutschen Fernsehen, so steht das böse Russland gegen die heldenhafte Ukraine, die sich aus dem russischen Würgegriff befreien möchte. Schaltet man durch die russischen Fernsehkanäle, ist das Bild natürlich genau andersherum. Dort helfen besorgte Russen ihren Landsleuten in einem Nachbarstaat, in dem es gerade einen Putsch gegen die amtierende Regierung gegeben hat. Im Eilverfahren wurde die Krim-Halbinsel unter die Kontrolle von russischen Truppen gebracht, die sich als solche nicht zu erkennen gaben, und der Russischen Föderation einverleibt. All das in einem Tempo, das westlicher Diplomatie fremd ist.

Gerade das Vorgehen von Russland, personifiziert durch Präsident Putin, gibt der Bevölkerung im  Westen Rätsel auf. Man fühlt sich an die Kanonenbootpolitik der viktorianischen und wilhelminischen Epoche erinnert. Und trotz aller diplomatischen Anfeindungen und Sanktionsdrohungen geht Putin unbeeindruckt seinen Weg. Was wie ein Hazardeursstück wirkt, ist aus russischer Sicht jedoch nicht unlogisch. Wer sich mit Russland auskennt, der kann die interkulturelle Brücke schlagen zwischen den Ereignissen und den wahrscheinlichen Intentionen der Akteure.

Die geschrumpfte Großmacht

Russland hat eine enorme imperiale Tradition. Erst waren es die Zaren, die ein riesiges Reich eroberten, das vom Nordmeer bis zu den Steppen Zentralasiens und von der Ostsee bis zur Bering-Straße reichte. Auch nach der Oktoberrevolution wurde dieser Expansionsdrang fortgesetzt. Zunächst ging es der kommunistischen Partei im Bürgerkrieg darum, die verlorenen Territorien (wie z.B. die Ukraine oder auch den Kaukasus) wieder unter ihre Kontrolle zu bringen, diesmal im Namen der kommunistischen Ideologie. Nach dem 2. Weltkrieg folgten weitere Gebietsvergrößerungen im Westen des Landes auf Kosten von Polen und den baltischen Staaten. Gleichzeitig wurden in den osteuropäischen Staaten, die von der Roten Armee befreit worden waren, kommunistische Regime etabliert und so der Machtbereich indirekt erweitert. Von daher fiel Russland seit dem 17. Jahrhundert die Rolle einer Groß- und Weltmacht zu, die aufgrund ihrer Größe nie erobert werden konnte. Dieses Bewusstsein ist bis heute in Bevölkerung verwurzelt, denn natürlich wurde diese Großmachtsmentalität von den jeweiligen Machthabern noch gefördert. Die dominante Rolle spielten zu allen Zeiten natürlich die Russen selbst und auch zu Zeiten der Sowjetunion setzte eine Russifizierung ein, denn die Vorgaben, wie der Sozialismus gestaltet werden sollte, kamen natürlich aus der Zentrale in Moskau.

Und all das wurde 1991 zur Makulatur. Wird Michail Gorbatschow im Westen gefeiert als der Mann, der ein unblutiges Ende des Kommunismus und die deutsche Wiedervereinigung ermöglichte, nehmen es ihm die Russen selbst übel, dass er der „Totengräber“ der Sowjetunion als Staat war. Russland wurde auf sich selbst zurückgeworfen. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ging ebenfalls ein erheblicher Statusverlust einher – Russland war zwar immer noch mächtig, aber keine Weltmacht mehr. Beide Faktoren widersprechen der Mentalität der Russen, die sich über die letzten Jahrhunderte in den Köpfen festgesetzt hatte. Und wie selbstverständlich betrachten die Russen daher die ehemaligen Sowjetrepubliken als ihre Einflusssphäre. Hierzu zählt natürlich auch die Ukraine und eine Annäherung Kiews an die EU wird als Affront betrachtet. Wie empfindlich Großmächte auf ein Eindringen anderer Mächte in ihre selbstgewählte Einflusssphäre reagieren, zeigen auch Beispiele von der anderen Seite des Atlantiks, nämlich die Kuba-Krise oder die Entmachtung von Präsident Allende in Chile.

Präsident Putin kann sich daher grundsätzlich auch der Unterstützung der Mehrheit der Russen sicher sein, verteidigt er doch nicht nur Landsleute, die sich in einem fremden Staat bedroht fühlen, sondern auch, weil sein Handeln den Grundwerten der russischen Mentalität entspricht. Von daher ist auch die Besorgnis der europäischen Staaten an der östlichen Peripherie, wie Polen oder die baltischen Staaten, verständlich. Denn die kennen diese Mentalität aus eigener Erfahrung.

Der starke Mann im Kreml

Es besteht kein Zweifel – Wladimir Putin hat Russland fest im Griff. Noch. Bereits die letzten Parlamentswahlen haben aufgezeigt, dass es auch eine Opposition gibt, und die Reaktionen der Staatsmacht auf nach westeuropäischen Maßstäben kleinen oppositionellen Demonstrationen zeigt, dass bereits der Versuch einer offenen Opposition im Keim erstickt werden soll. Präsident Putin ist sich durchaus bewusst, dass eine Entwicklung wie auf dem Maidan in Kiew in Moskau ebenfalls zumindest möglich wäre. Von daher ist es ihm politisch schlecht möglich, die Entwicklung in Kiew anzuerkennen. Es würde ihm auch als Schwäche ausgelegt werden, wenn eine pro-russische Regierung in einem Land, das zur Einflusssphäre Russlands gehört, durch eine pro-europäische Regierung gestürzt wird. Und Schwäche darf man als „starker Mann“ in Russland nicht zeigen.

Zu den Werten der Russen zählt ebenfalls, dass ein Mann stark zu sein hat, gerade auch wenn er der Regierung vorsteht. Oft wird Wladimir Putin mit freiem Oberkörper beim Sport in der Natur abgebildet. Was in Westeuropa mehr Grund zum Lächeln verursacht, erbringt in Russland den Beweis, dass er eben ein „echter Mann“ ist, was seiner Legitimität an der Staatsspitze förderlich ist. Was Schwäche in Russland bedeutet belegt auch das Beispiel von Nikita Chruschtschow, der nach der Kuba-Krise in der Öffentlichkeit als Verlierer wahrgenommen wurde. Auch dieser Umstand hat zu seiner Ablösung drei Jahre nach der Krise beigetragen.

Mia s´an mia – Selbstbewußtsein auf russisch

Russland ist ein großes Land mit langen Grenzen. Früher standen an den Grenzen Feinde, und man musste sie schützen, um Bedrohungen abzuwenden. Dieser Umstand hat ebenfalls die russische Mentalität mit einem verstärkten Bedürfnis nach Sicherheit geprägt. Gleichzeitig war Russland aber auch immer eine Großmacht, die schalten und walten konnte, wie sie es für richtig hielt. Andere Großmächte, wie beispielsweise Großbritannien und Frankreich, waren viel mehr gezwungen, sich mit ihren Nachbarn zu arrangieren. Dies hatte auch wirtschaftliche Gründe, denn beide Nationen waren und sind internationale Handelsnationen, eine Tradition, die Russland aufgrund seiner geographischen Lage weitgehend abgeht. Dieser Umstand hatte natürlich zur Folge, dass das russische Bewusstsein dahingehend geprägt wurde, dass man wenig oder keine Rücksicht auf die Befindlichkeiten anderer Nationen nehmen muss. In früheren Zeiten basierte die Möglichkeit sich so zu verhalten auf militärischer Macht. Heute auf dem Rohstoffreichtum des Landes, der sowohl Geldzufluss, wie auch Einfluss bewirkt. Aber die Welt ist gleichzeitig komplexer geworden, die Volkswirtschaften sind zunehmend voneinander abhängig und wirtschaftliche und politisch-diplomatische Interessen vermischen sich zunehmend. Die Mentalität der Russen ist jedoch noch nicht ganz in dieser Welt angekommen. Während in der westlichen Welt sowohl im Geschäftsleben, als auch in der Politik nach einer Win-Win-Lösung gesucht wird, ist dieses Konzept in Russland nicht weit verbreitet. Tatsächlich trifft man sehr häufig auf eine Win-Loose-Mentalität, die wiederum einher geht mit der Einstellung, um jeden Preis Stärke zeigen zu müssen.

Wenn wir uns an die von der OPEC ausgelösten Ölkrise der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts erinnern, war es genau die Rohstoffwaffe, die die westliche Welt traf. Allerdings bestand auch eine gegenseitige Abhängigkeit, denn natürlich konnten die OPEC-Staaten nicht auf Dauer ihrem damals einzigen lukrativen Absatzmarkt das Öl verweigern, ohne selbst wirtschaftlichen Schaden zu nehmen. Ist die Sorge um die russischen Gaslieferungen nach Deutschland also berechtigt? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Tatsache ist, dass Russland bisher auf Sanktionen immer mit Gegensanktionen geantwortet hat. Wie diese aussehen werden und wie eine Antwort darauf ausfallen könnte bleibt Spekulation. Es ist auch eine Tatsache, dass die USA hier freier agieren können als die EU, die auf ihre wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland viel stärker Rücksicht nehmen muss. Dafür benötigen die USA russische Unterstützung in der Iran- und der Syrien-Frage.

Heroes and villains?

Auch wenn die russische Vorgehensweise mit Blick auf die interkulturellen Erläuterungen verständlicher geworden sein mag, ist sie deshalb natürlich nicht als in Ordnung zu bezeichnen. Verstehen heißt nicht billigen. Die Situation ist jedoch komplexer, als es meist dargestellt wird, indem sie auf die Verwerflichkeit der russischen Reaktion auf die Geschehnisse in der Ukraine reduziert wird. Wer sich die Entwicklung der vergangenen Wochen vor Augen führt, wird sich der Tatsache nicht verschließen können, dass auch die Ukrainer entscheidend dazu beigetragen haben. Denn tatsächlich wurde durch die Absetzung von Präsident Janukowitsch durch das Parlament in Kiew die bereits ausgehandelte diplomatische Lösung des Maidan-Konflikts, der auch Russland zugestimmt hatte, verhindert. Mehrmals wurde von Kennern der Lage in der Ukraine betont, dass die Proteste auf dem Maidan nicht für eine Annäherung des Landes an die EU stattfanden, sondern sich gegen den Präsidenten und die Regierung richteten, denen man galoppierende Korruption vorwarf. Die folgende Eskalation warf die Gräben, die in der Ukraine zwischen den russischsprachigen und den ukrainischsprachigen Bevölkerungsteilen bestehen, wieder auf. Der Zankapfel Krim, durch eine „Laune“ Chruschtschows 1954 zur Ukraine gekommen, wollte bereits bei der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 ein Referendum zur eigenen Unabhängigkeit abhalten, was letztlich zur Bildung der Autonomen Republik Krim innerhalb der Ukraine geführt hatte. Letztlich aber unterscheidet sich die ukrainische Mentalität nicht sehr von der russischen, was wiederum die Ukrainer in eine prekäre Lage bringt. Denn heute sind sie die Schwachen und müssen sich dem „großen Bruder“ gegen ihren Willen unterordnen. Glücklicherweise bisher ohne militärische Gegenwehr.

Die jüngste europäische Geschichte ist nach dem Fall des Kommunismus voll von Beispielen der Bildung neuer Staaten und dem Anschluss anderer an bestehende Staaten, sowohl durch friedliche als auch durch kriegerische Mittel. Das prominenteste Beispiel ist sicherlich der Anschluss der DDR an die Bundesrepublik Deutschland. Tschechen und Slowaken trennten sich friedlich. In Jugoslawien führte die Auflösung des Staates hingegen zu Krieg und Völkermord. Später trennte sich Montenegro friedlich von Serbien. Im Kosovo führte gar die NATO Krieg und noch heute sichern KFOR-Truppen den fragilen Frieden. Allerdings betrafen diese Ereignisse mit Ausnahme der deutschen Wiedervereinigung Regionen, die sowohl politisch wie auch wirtschaftlich letztlich eine untergeordnete Rolle im Weltgeschehen spielten. Im Fall der Ukraine hingegen sind Global Player der weltpolitischen Szene involviert in einer Region, die als strategisch wichtig angesehen wird. Und nicht zuletzt geht es bei der Ukraine als Transitland für Rohstofflieferungen auch immer um wirtschaftliche Interessen.

Premier Cameron hat den Schotten ein Referendum über den Verbleib Schottlands im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland ermöglicht. Ist es daher so verwerflich, wenn die Bewohner der Krim über ihre eigene Zukunft abstimmen? Die Mehrheit der Krim-Bewohner sind Russen. Die Frage bleibt jedoch offen, was mit den Minderheiten im Falle der Unabhängigkeit oder einem Anschluss an die Russische Föderation geschieht. Es bleibt zu hoffen, dass die Diplomatie letztendlich Sieger bleiben wird, denn eines steht in jedem Fall fest – eine militärische Eskalation hätte desaströse Folgen für alle Beteiligten.

By | 2017-03-29T15:28:01+00:00 19. 03. 2014|Interkulturelles Training Russland, Hintergründe|

About the Author:

Rainer Beekes ist interkultureller Experte aus der wirtschaftlichen Praxis. Während seiner Unternehmenslaufbahn war er über 25 Jahre für multinationale Konzerne wie z.B. Volkswagen Financial Services, American Express, GMAC oder Société Générale in 5 Ländern in Linien- und Führungspositionen tätig. Der studierte Betriebswirt und Master of International Management (MIM) leitet Global Cultures – Akademie für interkulturelles Management, für die über 200 Experten zu 112 Ländern und Regionen weltweit tätig sind. | Linkedin | Xing | Google+ | Twitter | youtube | RSS |